Um den Namen Sven Baum kommt man im paralympischen Sport nicht herum. Mit einer frühen Karriere in der Para Leichtathletik in den 90ern und einer bis heute andauernden Karriere in der Sportart Para-Karate Disziplin Kata hat Sven nicht nur tolle Erfolge feiern können, sondern auch eine weit längere Karriere hinter sich, als die meisten Athleten von sich behaupten können. Mit frühen Erfolgen wie dem Sieg in der Deutschen Meisterschaft im Speerwurf und dem 100 und 400-m-Sprint in 1996, so wie seiner Rolle im Paralympics-Jugendlager 1996 in Atlanta, war er kein Unbekannter in der Leichtathletik. Bei diesem Pfad sollte es allerdings nicht bleiben und so sah es bald aus, als würde die Karriere schon 1997, mit 17 Jahren, enden, wo sie gerade erst begonnen hatte.
“Der Grund ist ganz einfach. Ich habe in Gera eine Ausbildung zum Bürokaufmann angefangen und hatte dort einfach nicht mehr die Infrastruktur und Ressourcen, um Leichtathletik weiter in dem Maße betreiben zu können. Wie es halt so ist, ist bei vielen Sportlern in dem Alter dann auch der sportliche Cut in Aussicht und bei mir war es ähnlich.”
Und so sah es vorerst auch aus. Sven fuhr mit seiner Ausbildung fort und ließ den professionellen Sport zunächst hinter sich, bis das Jahr 2006 wieder große Veränderungen mit sich brachte. Doch kein Profisport hieß nicht, dass es gar keinen Sport für ihn gab.
“Ich hab Tischtennis gespielt, ich hab Volleyball mit den Fußgängern gespielt, ich hab Krafttraining gemacht und so weiter, aber eben nichts Halbes und nichts Ganzes. Ich bin nach meiner zweiten Ausbildung beim Zoll nach Erfurt gezogen und hatte dann irgendwann einen Zettel im Briefkasten auf dem ‘Rollstuhlkarate’ stand. Da bin ich hellhörig geworden. Das kannst du machen bis ins hohe Alter, das ist jetzt nicht so energieaufwändig wie Leichtathletik, dachte ich zu dem Zeitpunkt, und ich kann mich im Notfall noch verteidigen. Das waren die ersten beiden Säulen, warum ich das ganz cool fand. Die dritte Säule kam ungefähr zwei Jahre später dazu, 2008. Da habe ich das erste Mal von deutschen Meisterschaften im Karate für Menschen mit Handicap (so hieß das damals noch) gehört und mein Leistungssportlerherz hat wieder angefangen zu schlagen. Auch weil ich den Leistungssport im Para-Bereich als ein sehr wichtiges Instrument für die Inklusion sehe. Ich habe meinem Trainer immer wieder gesagt: ‘Da müssen wir uns hinarbeiten. Wir müssen rausgehen und zeigen, was wir tun, damit wir mittel- und langfristig auch Nachwuchs generieren.’ Und somit waren sozusagen die drei Säulen meines Para-Karate gestellt und die stehen nach wie vor.”
Der Einstieg in die neue Sportart Para-Karate bedeutete zwar große Veränderung in Sven Baums Leben, die Ausdauer an eine Sache zu glauben und Fortschritte zu generieren begleiten ihn jedoch stets auf seinem Weg.
“Ich habe mit der Zeit die Handhabung mit dem Rollstuhl perfektionieren können, sehr viele Aha-Effekte gehabt, die ich ohne das Para-Karate nie hätte erleben können. Was mich aber immer wieder angetrieben hat, ist ein Gefühl, dass ich immer noch im Herzen trage. Es ist entstanden 1996 durch die Erlebnisse die ich im paralympischen Jugendlager machen durfte. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben, darauf hinzuarbeiten, nochmal bei den Paralympics an den Start zu gehen und dafür zu sorgen, dass Para-Karate irgendwann mal bei den Paralympics am Start ist, egal ob durch mich oder andere Athleten. Das ist quasi mein halber Beruf, die Sache der ich sehr viel unterordne.”
Aktuell ist Para-Karate zwar ein anerkannter paralympischer Sport, jedoch keine Disziplin, die bei dem Großevent schlechthin, den Paralympics vertreten ist. Was hinter seiner Passion dem Para-Karate steckt hat uns Sven im Detail erklärt.
“Das beinhaltet einmal den traditionellen Bereich mit der ganzen Philosophie, der Selbstverteidigung und so weiter. Dann gibt es den sportlichen, wettkampforientierten Bereich, mit der Wettkampfdisziplin Kata. Die gibt es bei den Fußgängern auch. Man muss sich Karate so vorstellen, dass es unterschiedliche Stilrichtungen gibt. Jede Stilrichtung hat mehrere Katas. Eine Kata ist eine festgeschriebene Bewegungsgrundform um die einzelnen Techniken effektiv zu lernen und dann unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten im Stil haben zu können. Diese festgeschriebene Kata wird bei einem Wettkampf durch Kampfrichter nach korrekter Ausführung, Ästhetik, Kraft und Dynamik bewertet. Unter dem Dach der ‘World Karate Federation’ gibt es im Para-Karate drei Kategorien. Das sind die blinden Athleten, die lern- oder geistig behinderten Athleten und die Rollstuhlfahrer. In dieser Kategorie starte ich. Die Kampfrichter bewerten dann die Kata in Form eines Punktesystems und da wird praktisch jeder Wackler, jede Unsicherheit, jede fehlende Dynamik gnadenlos bestraft. Das Besondere an der Disziplin Kata ist, dass man mental sehr stark sein muss und die ausgewählte Kata auf den Punkt perfekt zeigen muss, wenn man gewinnen will. Man hat keinen zweiten Versuch. Das ist ähnlich wie beim Skispringen oder Turnen. Man sagt ungefähr 90% des Kata findet im Kopf statt.”
Auch wenn Para-Karate-Athleten noch nicht bei den Paralympics zu sehen sind, heißt das nicht, dass man sich als Athlet nirgendwo beweisen kann. Sven konnte bereits 10 deutsche Meistertitel und eine Bronzemedaille bei der Weltmeisterschaft erkämpfen. Dennoch sieht er noch viel Potenzial nach oben.
“Ich hatte das Glück, die Bronzemedaille bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land zu erreichen. Das war im Para-Karate mein sportliches Highlight bisher. Ich sage deshalb bisher, weil ich mit Leib und Seele Leistungssportler bin. Natürlich war es von der ersten deutschen Meisterschaft an mein Ziel, im Para-Karate so erfolgreich wie möglich zu sein und so auch das sportliche Potenzial des Para-Karate weiter zu entwickeln. Natürlich ist mein Sport mit den Jahren viel professioneller geworden. Wir sind als paralympische Sportart anerkannt, haben es aber leider noch nicht ins paralympische Programm geschafft. Mein Ziel ist, auf allen Kanälen daran zu arbeiten, dass das mal passiert. Es gibt keinen Grund sich auf bisherigen Erfolgen auszuruhen, weder für mich als Sportler noch auf der organisatorischen Ebene für das Para-Karate. Im Gegenteil, jetzt sollten wir wieder eine Schippe drauflegen, mehr Athleten gewinnen. Man darf nicht vergessen, ich und viele Athleten der ersten Stunde werden immer älter und irgendwann verschieben sich vielleicht die Lebensprioritäten bei dem einen oder anderen.”
Als Athletensprecher ist Sven nicht nur durch seine sportlichen Leistungen Fürsprecher für seine Disziplin, sondern tut auch sein bestes, um Para-Karate im weiteren Sinn unter die Leute zu bringen, sowohl durch Öffentlichkeitsarbeit, als auch durch Kontakt mit Events und Organisationen.
“Mir macht die Arbeit in der Weiterverbreitung richtig viel Spaß, weil ich nach wie vor sehr viel Potenzial auf der Leistungssportebene sehe. Der Parasport im Allgemeinen hat eine phänomenale Entwicklung mit allen Höhen und Tiefen hingelegt. Das Highlight waren die Paralympics 2012 in London, die von der Wahrnehmung her nach wie vor ihresgleichen suchen. Ein kleiner Tiefpunkt waren die Paralympics vier Jahre später in Rio, bei denen bis vier Wochen vor dem Start nicht sicher war, ob sie stattfinden konnten, weil plötzlich kein Geld mehr da war. Ich glaube, das wir im deutschen Karateverband ganz gut angekommen sind. Natürlich gibt es da immer noch Potenzial wo man noch etwas an den Wahrnehmungs-Stellschrauben drehen kann. Ich glaube auch, dass wir im Namen der Inklusion und gleichberechtigten Wahrnehmung nicht umhinkommen, auch an die nichtbehinderten Fachverbände anzudocken wo es geht. Erst dann ist es wirklich Inklusion. Das bedeutet aber, dass wir für noch mehr Akzeptanz und Begeisterung unter nichtbehinderten Menschen sorgen müssen. Da setzt Inklusion für mich auch an. Wir machen Inklusion auch für Menschen ohne Handicap, weil wir mit Handicap ja wissen, wie wir damit umgehen müssen. Da ist noch eine Menge Potenzial vorhanden. Aber ich glaube, dass das noch Jahre dauern wird. Trotzdem müssen wir permanent daran arbeiten und nie Müde werden, das Thema anzusprechen.”
Die Öffentlichkeitsarbeit von Sven wird sehr positiv wahrgenommen. Für ihn ist der Sport, zwar immer noch grundlegend ein Wettbewerb, aber genauso eine Welt, in der man Akzeptanz dadurch finden kann, das man große Leistungen vollbringt, egal mit welchem körperlichen oder geistigen Hintergrund.
“Ich glaube fest daran, dass der Umgang mit Menschen mit Handicap sich normalisiert. Je mehr man sich damit auseinandergesetzt hat und die verschiedenen Handicaps wahrnimmt, desto weniger sieht man das Handicap und umso mehr das Potenzial, das Menschen haben. Ich sehe da nicht mehr die Hülle, sondern das was in der Hülle drin steckt. Der Umgang mit dem Handicap ist ein permanenter Kampf gegen die Klischees, die jeder so in seinem Kopf mit sich rumträgt. Ich wünsche mir einfach einen Umgang, in dem man die Leute nach dem bewertet, was sie tun, was sie wollen, nicht was sie sind. Wenn mich jetzt ein nichtbehinderter Mensch kennenlernt, kommt sehr oft die Frage: “Wie ist denn das mit deinem Handicap passiert?” Die Frage kommt im sportlichen Umfeld so gut wie gar nicht, oder erst wenn man sich schon eine ganze Weile kennt. Das ist der Unterschied: Im sportlichen Bereich geht es nach Zielen und Leistungen, wo man hinwill. Da spielt das Handicap eine nicht so tragende Rolle. So wie ich es mir immer wünsche: Handicap da würdigen, wo es notwendig ist, und sonst ignorieren.”
Mit seiner Arbeit vor und hinter den Kulissen hat Sven mittlerweile eine große Vorbildfunktion eingenommen, der er sich zwar durchaus bewusst ist aber dennoch nicht allzu viel Gewicht zukommen lassen will. Im Kern sieht er sich einfach als Sportler.
“Ich weiß, dass ich Spitzensportler bin, ob mit oder ohne Handicap spielt für mich keine Rolle. Ich glaube, das ist unter Sportlern meist schon eine Begegnung auf Augenhöhe. Dass wir eine Vorbildfunktion für jüngere Menschen haben ist denke ich unbestritten. Was ich mit der Rolle erreichen will, ist die Inklusion weiter dauerhaft voranzubringen und am Ende den Umgang mit Handicap normaler werden zu lassen. Auf sportlicher Ebene kann ich nur immer wieder sagen: Machen, machen, machen, Dreck fressen, aufstehen, weitermachen. Und hier und da mal lernen zu verlieren ohne aufzugeben. Nur wer gelernt hat zu verlieren, kann auch gewinnen.”
Auch mit Vierzig ist für Sven Baum noch kein Karriereende in Sicht und er kämpft weiterhin für seine eigenen sportlichen Erfolge sowie den Fortschritt und die Anerkennung für seine Sportart.
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Autor
louisa
Autorin und Mitgründerin von Athlet.one
Mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung im Spitzensport hat Louisa De Bellis den Durchblick in der Welt der Athlet:innen. Als ambitionierte Handballerin ist sie in der deutschen Sportlandschaft bestens vernetzt, führt Interviews mit Sportler:innen und teilt ihre Expertise auf Athlet.one!